12. Juni 2023
Marte Hentschel ist CEO von Sqetch, einer B2B-Sourcing-Plattformen für die Mode- und Textilindustrie mit Sitz in Amsterdam und Berlin, sowie Co-CEO von VORN - The Berlin Fashion Hub, einer phygitalen Plattform für nachhaltige Entwicklungen in der Modeindustrie. Außerdem ist die Nachhaltigkeitsexpertin eine langjährige Projektpartnerin des FCG und Professorin an der BSP Business & Law School in Berlin.
In unserem Interview sprechen wir mit ihr über Digitalisierung, Circular Economy und Künstliche Intelligenz.
1. Du bist Co-CEO bei VORN – The Berlin Fashion Hub, der gemeinsam mit Magdalena Schaffrin und Max Gilgenmann von der Strategieberatung studioMM04 ins Leben gerufen und von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe in Auftrag geben wurde. Was ist Eure gemeinsame Vision mit „VORN“?
VORN - The Berlin Fashion Hub ist ein physischer und digitaler Ort im Herzen Berlins, an dem Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung der Modeindustrie gemeinschaftlich konzipiert, umgesetzt und zugänglich gemacht werden. Wir bieten einen inspirierenden Ort des Austauschs und des Wissenstransfers und fungieren als Vermittler zwischen High-Tech-Entwicklung und der Mode- und Kreativbranche. Unser Fokus liegt insbesondere auf Marken und Kreativen, NGOs und Forschungsinstituten sowie Start-ups und Scale-ups entlang der Mode- und Textilwertschöpfungskette, einschließlich Technologie- und Digitalunternehmen. Unser Ziel ist es, Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung zu fördern, zu beschleunigen und zu kommunizieren. Wir realisieren dies durch unsere vier aufeinander aufbauenden Programme: Community Services und Coworking, Innovation Lab und Scaling Programme. Als eingetragene Genossenschaft arbeiten wir gewinnorientiert, jedoch mit dem Gemeinwohl im Fokus. Wir kooperieren mit deutschen, europäischen und internationalen Partnern und Organisationen, um die Zukunft der Mode voranzutreiben.
2. Neben Deinen Tätigkeiten als CEO und Co-CEO bist Du viel als Beraterin, Coach und Speakerin unterwegs. Was ist nach Deiner Meinung nach wie vor die größte Herausforderung bei der Transformation der Branche zu einer „Circular Economy“?
Aus meiner Sicht liegt das Kernproblem in der Entwertung und der kurzen Lebensdauer von Produkten aufgrund einer immensen Überproduktion. In den letzten 20 Jahren hat sich der Konsum verdoppelt, während der Preis und die Nutzungsdauer halbiert wurden. Jeder europäische Bürger erzeugt durchschnittlich 15 kg Textilmüll pro Jahr, wobei weniger als 1% recycelt wird. Um dieses Problem anzugehen, sind strukturelle Lösungen erforderlich, die von Politik, Industrie und Zivilgesellschaft gemeinsam entwickelt werden müssen. Dazu gehören langlebigere Produkte und eine umfangreiche Recyclinginfrastruktur. Wir beteiligen uns aktiv an diesem Transformationsprozess durch Forschungs- und Entwicklungsprojekte sowie durch unsere Teilnahme an Multistakeholder-Initiativen und Foren.
3. Als CEO von Sqetch, einem Softwareanbieter und Innovationsagentur, sind digitale Themen für Dich an der Tagesordnung. Gerade wird viel über Künstliche Intelligenz diskutiert. Wie beurteilst Du das Thema für die (digitale) Modebranche?
Künstliche Intelligenz wird als Schlüsseltechnologie die gesamte Wertschöpfungskette nachhaltig verändern. Bei Sqetch engagieren wir uns dafür, Modemarken und Herstellern Informationen über potenzielle Umwelteinträge entlang ihrer Lieferkette bereitzustellen. Dadurch möchten wir ihnen dabei helfen, im Voraus fundierte und nachhaltige Einkaufsentscheidungen zu treffen.
4. Im Moment lehrst Du u.a. als Professorin an der BSP Business & Law School in Berlin, davor warst Du einige Jahre an der AMD in Berlin. Gibt es Themen, die in deiner Lehrtätigkeit verstärkt in den Fokus gerückt sind (Stichwort Nachhaltigkeit, Innovation, Digitalisierung)?
Die Förderung der digitalen und nachhaltigen Transformation ist ein zentraler Bestandteil meiner Lehrtätigkeit. Es ist von großer Bedeutung, dass die zukünftigen Gestalter und Führungskräfte über die richtigen Instrumente und Methoden verfügen, um als Change Agents in Unternehmen wirksam zu sein. Aus diesem Grund kooperieren wir mit einer Vielzahl von Industriepartnern, NGOs und Forschungsorganisationen. Dabei werfen wir auch einen Blick auf andere Branchen, die in Bezug auf digitale und nachhaltige Transformation bereits weiter fortgeschritten sind als die Modewirtschaft.
5. Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität gehören inzwischen bei fast allen Unternehmen und Start-ups zur Selbstverständlichkeit. Was braucht man deiner Meinung heutzutage, um den/die Konsument:in von seiner Dienstleistung oder Produkt zu darüber hinaus überzeugen?
Trotz des Vorhandenseins von mehr als 200 Nachhaltigkeitssiegeln sind Verbraucher häufig überfordert und haben Schwierigkeiten einzuschätzen, welche Nachhaltigkeitsaussagen vertrauenswürdig sind. Zusätzlich tragen Greenwashing-Skandale dazu bei, dass zwar 70% aller Konsumenten Interesse an Nachhaltigkeit haben, aber weniger als 10% der verkauften Produkte tatsächlich nicht-konventionell sind ("Attitude-Behavior-Gap"). Um diese Problematik anzugehen, werden im Rahmen der EU-Textilstrategie derzeit legislative Initiativen entwickelt, die auf transparentere und verlässlichere Verbraucherkommunikation abzielen. Ein Beispiel dafür ist der Digital Product Passport, der Nachhaltigkeitsmerkmale und Lieferketteninformationen auf einen Blick erkennbar machen soll.
Wir bedanken uns bei Marte Hentschel für das Gespräch.